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Dr. Henning Voscherau

Henning Voscherau war kaum im Amt, da rauschte ein steinernes Schwert an seinem Fenster vorbei. „Es war das Schwert Friedrich Barbarossas oder Karls des Großen,“ erinnert er sich, „jedenfalls rutschte es einem dieser Kaiser bei starkem Wind aus den Händen und sauste am Amtszimmer des Bürgermeisters vorbei auf den Rathausmarkt. Reiner Zufall, dass es dort niemanden aufspießte.“ Er schaut mich mit der für ihn so typischen Mischung aus Spitzbübigkeit und hanseatischem Ernst an. „Stellen Sie sich vor, meine Amtszeit hätte mit so einer Hinrichtung begonnen. Ein gutes Omen sieht anders aus...!“

Allerdings. Aber mit dem Fall des Schwertes war die Gefahr, dass sich Menschen, die sich in die Nähe des Rathauses begaben, schwer verletzt oder gar getötet wurden, noch lange nicht gebannt. Bei jedem neuen Sturm lösten sich Kupferplatten vom Dach und segelten wie überdrehte Frisbeescheiben waagerecht über den Rathausmarkt. „Als ich das Haus 1988 übernahm,“ sagt Voscherau, „befand es sich in einem grauenvollen Zustand. Es war neunzig Jahre alt und bis dahin noch nie grundlegend renoviert worden.“ In der Festsaalebene platzten die Ventile der Heißdampfleitungen, die von den damaligen Baumeistern zu Recht als technisches Wunder gepriesen wurden – aber auch Wunder haben ihre Halbwertzeiten. „Der Dampf aus diesen Leitungen schoss in diese Prachträume, kondensierte und setzte sie unter Wasser,“ bemerkt mein Gesprächspartner lächelnd, „es musste unbedingt etwas geschehen. Allerdings hatte ich erhebliche Manschetten, wie man in Hamburg sagt. Vor der Reaktion der Bevölkerung. Wie sollte ich den Hamburgern bei allen Sparmaßnahmen, die wir ihnen angesichts der knappen Haushaltslage gerade zumuteten, erklären, warum wir bereit waren, zig-Millionen für die Renovierung eines Gebäudes auszugeben?“

In dieser Situation zeigte sich, dass Henning Voscherau mit einem Talent gesegnet war, dass nicht vielen politischen Verantwortungsträgern zu eigen ist: das Talent, zu überzeugen, die richtigen Leute zum richtigen Zeitpunkt für die richtigen Ziele einzubinden. „Ich kannte das Haus inzwischen sehr gut,“ sagt er, „also habe ich die Hamburger Journalisten zu einer alternativen Rathausführung eingeladen.“ Und so geschah es, dass die Hamburger Medienvertreter dem neuen Bürgermeister sichtlich geschockt über verstaubte Stiegen durch die Eingeweide des ehrwürdigen Gemäuers folgten, um jene Schwachstellen zu inspizieren, die man dringend beheben musste, wenn Hamburgs Stolz nicht von innen heraus verfaulen sollte. „Auf diese Weise,“ bemerkt Voscherau schmunzelnd, „konnte ich den überfälligen Modernisierungsbedarf mehr als deutlich machen. Ich bekam im Verlauf der Arbeiten aus den Medien nicht in einziges Wort der Kritik zu hören.“

Das marode Heizungssystem wurde in Ordnung gebracht, das Dach neu gedeckt und die Kaiser an der Außenfassade mussten auch nicht mehr befürchten, dass ihnen die Insignien der Macht einfach aus den Händen glitten. Die Hamburger waren begeistert von den Arbeiten, insbesondere in der Festsaalebene, die mit ihren sieben übereinander liegenden, nikotinverseuchten Farbschichten bisher jegliches Licht zu verschlingen schien, anstatt es auszustrahlen, und die nun mit Staats- und Spendengeldern zu neuem Glanz erwachte. Man kam sich vor wie in der Sixtinischen Kapelle nach der Restaurierung. „Und jetzt,“ sagt Henning Voscherau, „jetzt hält das erstmal wieder neunzig Jahre...“

Für ihn es ist ein Wunder, dass das Rathaus überhaupt noch steht. Während die gesamte Hamburger Innenstadt im Bombenhagel des zweiten Weltkrieges in die Knie ging und die Gebäude nur noch an verbrannte Totenschädel erinnerten, hatte das Rathaus keine bedeutenden Treffer zu verzeichnen. „Eigentlich unerklärlich,“ murmelt mein Gesprächspartner. „Wenn das Haus getroffen worden wäre, hätte niemand den Wiederaufbau bezahlen können. Dann hätten wir heute ein Waschbetonmonstrum als Rathaus wie jede x-beliebige Kreisstadt auch. Furchtbar.“

So sehr Henning Voscherau den Stolz der Hamburger auf ihr Rathaus zu teilen vermag, so zwiespältig bleiben seine Gefühle, wenn er daran denkt, unter welchen Umständen die Entscheidung für den Bau damals fiel. „Die Stadt hätte das Geld eigentlich dringend für den Einbau eines Sandfilters in die Wasserkunst des englischen Ingenieurs William Lindley gebraucht. Man wusste inzwischen, wie man das Vordringen von Krankheitskeimen ins Trinkwassersystem deutlich reduzieren konnte: durch den Einbau von Sandfiltern. Das war aber teuer. Und diese Gelder wurden nicht bewilligt. Während Millionen in die Errichtung des Rathauses flossen, blieben die hygienischen Verhältnisse bei der Wasserversorgung katastrophal. Mit dem Ergebnis, dass 1892 zehntausend Hamburger an der Cholera starben...“

Henning Voscherau regierte die Stadt neun Jahre, von 1988 bis 1997. Eine lange Zeit, in der ihm das Rathaus wie ein zweiter Anzug vorgekommen sein muss. Wie wächst man in einen solchen Anzug hinein? Was macht die Autorität des Amtes mit einem frisch gebackenen Wahlsieger? „Es erzieht zur Disziplin, zur Demut, nicht zum Größenwahn,“ antwortet der Ex-Bürgermeister spontan. „Es ist ein schönes Amt, weil man den ganzen Tag für den Bürger anfassbar und present sein muss. In den unmittelbaren Reaktionen der Menschen erfährt man sehr deutlich, welche Auswirkungen es hat, was man tut, was man nicht tut und was man nicht tun kann. Irgendwann wird man von der permanenten Sorge geplagt, dass es wirklich nicht gut genug läuft. Weil ja die Fülle der Aufgaben viel größer ist, als die Instrumente und das zur Verfügung stehende Geld. Man lebt in einem ständigen Gefühl politischer Defizite. Das macht bescheiden... Die eigentliche Aufgabe besteht wohl daran, die Stadt ein wenig besser zu machen, als man sie übernommen hat. Die Vorgänger laufen einem im Geiste ständig über den Weg, deshalb sage ich: die Stadt ist ein Kontinuum. Wenn man das verstanden hat, dann weiß man, man ist ein Diener auf Zeit.“

Wir sitzen in seiner Anwaltskanzlei am Alstertor, nur zweihundert Meter vom Rathaus entfernt. Henning Voscherau lässt den Blick über die gegenüberliegende Fassade gleiten, die sich nahtlos in das klassizistische Gepräge des Innenstadtensembles einfügt. „Diese Stadt ist voller Lebenskraft,“ lässt er sich vernehmen, „voller Zuversicht und voller Stärke. Und ich finde, dass die gebaute Innenstadt in ihrer Gediegenheit und in ihrer Mischung von Tradition und Moderne ohne die andernorts so typischen Fehlentwicklungen zeigt, dass die Hamburger auch Maß und Urteil haben. Dass sie an ihrer Stadt hängen, an ihrer Schönheit, an ihrer Erkennbarkeit. Hamburg hat ja der weltweiten Versuchung widerstanden, den Stadtkern zu einem verwechselbaren Einheitsbrei aus Glas und Beton umzuwandeln, sodass man gar nicht mehr genau weiß, ist man jetzt in Hongkong, in Singapur, in Manhattan oder wo ist man eigentlich. Das haben wir nicht mitgemacht, und das finde ich sehr schön...“

Er schmunzelt wie einer, der das Gröbste überstanden hat. „Wenn ich heute durch Hamburg spaziere, erinnere ich mich an viele Diskussionen, viele Beratungen und Entscheidungen, die bei dem Versuch anfielen, die letzten Kriegslücken zu schließen und die Stadt attraktiver zu machen. Das alles kann man heute fix und fertig in Augenschin nehmen. Insbesondere die Schließung der Randbebauung und des Herrengrabenfleets, also die bauliche Verbindung von Alster und Elbe. Dann die sogenannte Perlenkette vom alten Elbtunnel bis nach Altona. In dem früher schäbigen Hafenrand hat sich in kürzester Zeit Unglaubliches verändert. Einschließlich der Hafencity, an deren Planung ich ja maßgeblich beteiligt war. Ich hab dort ja den allerersten Grundstein gelegt. Wussten Sie eigentlich, dass unter Stadtplanern der Spruch gilt, dass sich eine Stadt pro Jahr um zwei Prozent verändert? Demnach wäre sie nach fünfzig Jahren ganz neu. Das halte ich allerdings für ziemlich übertrieben.“

Henning Voscherau lehnt sich zurück und lacht. Er musste gerade an eine Begegnung mit dem Unternehmer Alfred Carl Toepfer denken, dem Gründer der Alfred Toepfer Stiftung, der größten deutschen Privatstiftung. „Ich weiß nicht mehr genau, um welchem Anlass es sich handelte, aber die Begegnung fand im Kaisersaal statt. Mir gegenüber saß also der alte Toepfer, 98 Jahre alt und ziemlich taub. Plötzlich sah er mich an und trompetete: `Herr Bürgermeister! Finden Sie nicht auch, dass der Rathausplatz durch die Neubauten sehr gewonnen hat?!´ Mir war nicht klar, wovon er sprach, ich kannte keine Neubauten am Rathausplatz. Plötzlich erwähnte mein Gegenüber, dass er als Junge an der Baugrube gestanden und den Arbeitern beim Legen der Fundamente zugeschaut hätte. Dann informierte er mich darüber, dass die Baugrube am Hauptbahnhof mittlerweile auch verschwunden sei. Ich will damit nur sagen, dass sich im Laufe eines Menschenlebens doch eine gewaltige Wandlung vollzieht in so einer Stadt. Sie erinnern sich sicher noch an die Mönckebergstraße Mitte der fünfziger Jahre, das ist mit heute doch gar nicht mehr zu vergleichen.“

Für Klein-Henning hatte die Mönckebergstraße eine besondere Bedeutung. Wie häufig war er sie an der Seite seines Vaters entlang gelatscht. Carl Voscherau war als Schauspieler am Thalia-Theater beschäftigt. „Wir fuhren also mit der S-Bahn zum Hauptbahnhof und dann gingen wir die Mönckebergstraße hinunter bis zum Gerhard-Hauptmann-Platz. Für mich war dieser Platz der Mittelpunkt der Stadt. Und da mein Vater in Hamburg ein sehr bekannter Mann war, konnten wir keine zehn Meter gehen, ohne dass uns jemand mit ausgebreiteten Armen entgegen kam und rief: ´Mensch, Voschi!´. Und dann blieben die Erwachsenen stehen und unterhielten sich fröhlich. Waren ja alles Davongekommene. Aber mich langweilten diese Gespräche, ich wurde sozusagen lahm gelegt durch sie. Aber es gab ein wunderbares Café in der Nähe: Café und Konditorei Wilm. Dort hat mich mein Vater dann reingesetzt. Für ein Kind, das nur Steckrüben gewohnt war und plötzlich mit einer Schneemustorte bei Wilm bedient wurde, war das das Paradies. Und heute gehe ich jeden Tag da vorbei, an dem Theater, an dem Gebäude des früheren Cafés – merkwürdige Koinzedenzen, dass muss ich wirklich sagen...“

Viele erfolgreiche Menschen berichten, dass sie bereits in jungen Jahren von ihrer Bestimmung gewusst haben, fortan galt es lediglich, das schicksalhafte Versprechen einzulösen. Gab es auch im frühen Leben des Henning Voscherau einen Zeitpunkt, wo ihm bewusst wurde, dass er zu großer politischer Verantwortung bestimmt sei? „Nein,“ gibt er unumwunden zu. „Aber der Überlieferung zufolge waren bei meiner Geburt die Nachbarn, Freunde und meine Eltern der Überzeugung, aus diesem Jungen wird mal was. Ja, das wird behauptet. Die Witwe eines schauspielenden Kollegen meines Vaters hat mir einmal geschrieben, dass ihr Mann zu ihr gesagt hätte: `Pass auf, der Junge wird noch Bürgermeister von Hamburg!´“ Er schaut mich sichtlich amüsiert an. Dann schüttelt er den Kopf. „In mir selbst war das nicht drin,“ sagt er. „Ich bin von meinen Eltern früh zu einem politisch denkenden Menschen erzogen worden, aber nicht zu einem Parteipolitiker. Der SPD bin ich aus nostalgischen Gründen beigetreten, nachdem alle meine Vorfahren, die in der Partei waren und für sie gearbeitet hatten, tot waren. Da hatte ich das Gefühl, nun sei die Reihe an mir. Ich wollte Flagge zeigen, ich wollte zeigen, dass es nicht nur auf den Mammon ankommt, sondern auf den Menschen. Mehr war eigentlich nicht.“

Wie muss man sich den Stellenwert eines Hamburger Bürgermeisters in der Bundespolitik vorstellen? Immerhin vertritt er eines von sechzehn Bundesländern. Wie reagieren die Kollegen auf den Hamburger Abgesandten in der Ministerpräsidentenkonferenz? „Man muss ehrlich sein,“ antwortet Voscherau, „da laufen der Bürgermeister von Bremen, der Erste Bürgermeister von Hamburg und der Regierende Bürgermeister von Berlin herum und alle drei gelten von amtswegen als Außenseiter. Sie regieren kein Flächenland, haben hauptsächlich zu tun mit Kommunalentscheidungen und da schauen die Herren Ministerpräsidenten schon ein wenig amüsiert auf die Herren Bürgermeister. Jaja. Man hat ja auch wenig Bundesratsstimmen, sodass man für die Bildung von Koalitionen nicht so wichtig ist. Aber diese Randposition kann man durchbrechen. Mit personaler und fachlicher Autorität. Sie müssen es soweit bringen, dass alle anderen zuhören, wenn man etwas sagt.“

Ich gebe zu bedenken, dass die Herren Ministerpräsidenten in vergleichsweise unattraktiven Käffern wir Kiel, Saarbrücken oder Schwerin residieren, während der Hamburger Bürgermeister immerhin einer Metropole von Weltrang vorsteht. Henning Voscherau lächelt und nickt bedächtig. „Das ist richtig,“ antwortet er, „aber wir Hamburger haben es im Konzert der Bundesrepublik auch deshalb besonders schwer, weil wir durchgängig als arrogant gelten.“ Bitte?! „So ist das,“ wiederholt er, „wir gelten als arrogant. In gewisser Weise kann ich dieses Vorurteil sogar verstehen. Das hat sein Ursprünge in der Zeit des Rathausbaus, in der Zeit der Gründung des deutschen Kaiserreichs und dem Zollbeitritt Hamburgs, als in nur einer einzigen Generation, nämlich von 1880 bis 1914, ein ungeheurer Reichtum nach Hamburg floss. Und diese Generation, so behaupte ich immer, war die einzige, der man zutrauen konnte, so ein Gebäude wie das Hamburger Rathaus zu errichten. Und das ist ja nun wirklich ein Symbol von Selbstbewusstsein und Bürgerstolz.“

Er nennt zwei weitere Beispiele, an der die Arroganz der Stadt noch heute gerne fest gemacht wird. „Da kommt nach dem Krieg mit Max Brauer der ehemalige Bürgermeister von Altona aus dem New Yorker Exil, wird Bürgermeister von Hamburg und fährt mit der britischen Besatzungsmacht Schlitten. Später schreibt er dem Bundespräsidenten Heuss, der gerade das Bundsverdienstkreuz aus der Taufe gehoben hatte, dass die Hamburger seit zwölfhundertsowieso keine Orden annehmen und die Stadt sich an dem Zirkus nicht beteiligen werde. Das ist arrogant. Der Brauer hat tatsächlich erklärt, er würde von sich aus keine Ordensvorschläge an die Ordenskanzlei des Bundespräsidenten machen. Das gilt als arrogant. Und dann denken Sie an Helmut Schmidt, Bundestagsabgeordneter, Fraktionsvorsitzender, Verteidigungs- und Finanzminister, später Bundeskanzler. Haben Sie die Bundestagsdebatten mit Schmidt-Schnauze noch im Kopf? Seine kühle, schneidende Rhetorik? Diese Stärke galt bei vielen Bundesbürgern als arrogant. Da wir politisch schwach sind, ist das gefährlich. Also müssen wir uns bemühen, gute Beiträge zu leisten, Solidarität zu zeigen und Freunde zu gewinnen.“

Das mit den Freunden gewinnen hat überzeugend geklappt. In den letzten Jahren ist Hamburg in der Beliebtheitsskala rasant nach oben geschnellt. München ist als Touristenziel locker abgehängt worden und Berlin spürt Hamburgs Atem bereits deutlich im Genick. „Ist das ein Wunder?“ fragt Henning Voscherau. „Wenn man über die Elbbrücken kommt mit dem ICE, da geht einem doch das Herz auf!“

Zum Schluss erzählt er noch eine Geschichte, die mehr über Hamburg verrät, als viele andere. Zwischen dem Rathaus und der Börse gibt es einen Geheimgang - wofür der auch immer gut war. Es gibt zwei Schlüssel zu diesem Gang. Einer befindet sich in Händen des Hauptgeschäftsführers der Börse, der andere ist im Besitz der Rathausverwaltung. „Ich habe weder den einen noch den anderen Schlüssel je zu Gesicht bekommen,“ sagt Henning Voscherau, „ich bin in fast zehn Jahren als Bürgermeister nie vertrauensvoll genug geworden, um diesen Schlüssel zu bekommen...“ Dabei strahlt er mich an, als hätte er mir gerade äußerst schlüssig das wahre Wesen dieser wunderbaren Stadt erklärt.

Henning Voscherau (* 13. August 1941 in Hamburg) war von 1988 bis 1997 Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg.

Dieser Text erschien in der Zeitschrift „Der Hamburger“, Ausgabe Winter 2009

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